Der Vulkan Eldfell auf Vestmannaeyjar

Der 16 jährige Haraldur wird in der Nacht des 23. Januar 1973 durch seine wütende Schwester geweckt. Sie steht in seiner Zimmertür und faucht ihn an, dass er sofort aufhören solle, vor die Wand zu boxen, die beide Kinderzimmer voneinander trennt. Haraldur reibt sich die verschlafenen Augen und versucht zu verstehen, warum seine aufgebrachte Schwester behauptet, er sei dafür verantwortlich, dass ihre Habseligkeiten aus dem Regal an der Wand gefallen sind. Erst im zweiten Moment fällt den Geschwistern ein heller Schein auf, der durch das Fenster dringt. Die Jugendlichen werden Zeugen davon, wie sich auf der Ostseite der Insel, nur etwa 1 km vom Ortszentrum Heimaeys entfernt, eine Spalte öffnet und mit spektakulären Lavaföntänen der Ausbruch des neu entstehenden Vulkanes Eldfell (dt. „Feuerberg“) beginnt.

Wir treffen Haraldur zufällig im Hundefreilaufgebiet der Insel Heimaey, die größte und einzig ganzjährig bewohnte Insel des Vestmannaeyjar- Archipels, das auf einem submarinen Vulkansystem vor der Südküste Islands liegt. Haraldurs Border Collie Mischling springt um uns herum, während sein Herrchen uns bereitwillig von der Nacht vor fast 50 Jahren berichtet, die das Aussehen der Insel nachhaltig verändert hat. „Ja“, beschreibt Haraldur „der Ausbruch kam damals für alle Bewohner überraschend und nein, es hat keine Vorzeichen gegeben – abgesehen von einigen leichten Erdbeben, aber an so etwas waren wir auf den Westmänner-Inseln gewöhnt“. Für uns deutsche Touristen im Jahr 2021 ist dies schwer vorstellbar, haben wir noch am Vortag das aktive Ausbruchsgeschehen des Fagradalsfjall-Vulkan auf der Halbinsel Reykjanes besucht und seit Monaten die Livestreams von der Ausbruchsstelle im Internet verfolgt.

1973 baute niemand einen Livestream auf, stattdessen begann eine großangelegte Evakuierung der gesamten Insel. Glück im Unglück: die häufig von rauen Stürmen heimgesuchte Inselgruppe, hatte am Vortag des Vulkanausbruches einen solchen Sturm erlebt. In der Folge war die gesamte Fischereiflotte der Insel nicht ausgefahren und es standen genügend Boote zur Verfügung, um innerhalb von drei Stunden mehr als fünftausend Menschen auf das gegenüberliegende Festland zu evakuieren. Alte und bettlägerige Patienten wurden ausgeflogen. Haraldurs Familie konnte bei Verwandten in der Nähe von Reykjavik unterkommen. Sie hatten großes Glück und verloren ihr Haus auf Heimaey nicht an den Lavastrom, der etwa 100 Gebäude überwalzte und auch nicht an den Ascheregen, große Teile des Ortes teilweise bis zu 8 m verschüttete.

Auf die Frage, wann er auf die Insel zurückkehren konnte, antwortet Haraldur „September 1973“. Er gehörte zu den freiwilligen Helfern, die versuchten, die Stadt von den Aschebergen zu befreien, Häuser auszugraben und zu retten, was noch zu retten war. Er berichtet uns, dass er die Insel bei seiner Ankunft kaum wiedererkannt habe. Er zeigt auf umliegende Lavafelder und Hügel, die vor dem Ausbruch nicht existent gewesen waren. Für uns ist das kaum vorstellbar, wir müssen uns dazu eine Karte anschauen, um zu verstehen, dass die Insel, die Haraldur im Januar verlassen hatte, im September um 20 % ostwärts ins Meer „gewachsen“ ist. „Seid Ihr schon im Museum gewesen?“, will Haraldur von uns wissen. Als wir verneinen, legt er uns einen Besuch sehr ans Herz und weist uns auf ein Zeitrad hin, welches den Verlauf des Vulkanausbruchs hervorragend visualisiere. „Schaut Euch an, wie knapp der Lavastrom vor unserer Hafeneinfahrt zum Stillstand kam.“ Haraldur spielt hier auf die größte Sorge der damaligen Bewohner von Heimaey an: wäre die Hafeneinfahrt verschüttet worden, wäre die Lebensgrundlage der Bewohner – der Fischfang – nicht länger möglich gewesen. Experten vom Festland hatten dazu geraten, die Insel „aufzugeben“, aber die als etwas eigensinnig bis störrisch bekannten Insulaner wollten sich der Naturgewalt des Eldfell nicht so schnell geschlagen geben. Mit Wasserpumpen versuchten sie, letztlich erfolgreich, den Lavastrom mit Meerwasser abzukühlen und ihn zum Stoppen zu bringen. Sagen wir so: es war knapp! Die Hafeneinfahrt ist heute deutlich enger geworden und wird von großen Bergen erkalteter Lava eingerahmt. Auf der Insel findet man die alten, gusseiserenen Pumpen als Erinnerungsstücke an diese Rettungsaktion.

Am 3. Juli 1973 wird das Ende des Vulkanausbruchs verkündet. Es dauerte mehrere Jahre, bis die letzten Aschereste weggeschaufelt sind und weitere 30 Jahre bis am Rande des Lavafeldes Kirkjubæjarhraun das Vulkanmuseum Eldheimar entstand, das dem Besucher von der Zeit vor, während und nach der Eruption erzählt. Kernstück der Ausstellung ist das Haus bzw. die Überreste des Hauses in der Gerðisbraut 10. Man hat das gesamte Museum um diese Überreste herum gebaut, was der Ausstellung den Beinamen „Pompeji des Nordens“ eingebracht hat. Uns hat das Museumskonzept sehr überzeugt. Durch Interviews mit den ehemaligen Bewohnern des Hauses, werden die verheerenden Auswirkungen des Vulkanausbruchs für die Einwohner von Heimaey sehr greifbar – denn schließlich hat nicht jeder das Glück, einen gesprächsfreudigen Haraldur bei seinem Hundespaziergang zu treffen …

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